Waldwege

"Verstehe, aber ich denke, ich würde genauso handeln, auch wenn ich kein Greif bin", meinte ich darauf.

Kemyles lächelte.
"Greife handeln nicht generell so. SIe werden dazu angehalten. Niemand nimmt Richtlinien wirklich ernst. Man nimmt sie nur gerne her, um seine Handlungen zu rechtfertigen...aber es ist schön, dass es tatsächlich auch einige ehrenhafte Menschen gibt."

"Das nehme ich dann als Kompliment", sagte ich grinsend.

Kemyles schmunzelte und nickte.
"Wenn du all die Jahre immer nur auf der Flucht warst...warst du dann auch nie mit einem Mädchen zusammen?", fragte Kemyles mehr oder weniger indiskret.

"Nein, es würde sie nur in Gefahr bringen", antwortete ich wahrheitsgemäß.

Kemyles runzelte leicht die Stirn.
Das zu verstehen war für einen Greifen nicht allzu leicht - Greifenfrauen waren mindestens so wehrhaft wie die Männer...je nach Situation vielleicht sogar gefährlicher.
"Du solltest dringend dein Leben in Ordnung bringen, Akira. Wenn du so weiter machst...kannst du am Ende deiner Tage zwar sagen, dass du am Leben geblieben bist...aber wenn du nicht aus deinem Leben machst, wenn du keinen echten Sinn außer dem puren Überleben hast...was bringt dir das Überleben dann?"

"Nun, bis jetzt habe ich nur ein Ziel, Kaito die Wahrheit zu sagen, dannach werde ich weitersehen, wenn die Scorpione mich bis dahin nicht gefunden haben, vielleicht bilde ich dann eine Familie", erwiderte ich.

Kemyles Lächeln war verständnisvoll, als er antwortete: "Dann hoffen wir doch einfach mal, dass Dalaia dir sagen kann, wo Kaito sich rumtreibt."

"Hoffen wir das", stimmte ich ihm zu.

Kemyles erwiderte darauf nichts mehr, sondern starrte lieber in den Wald. Er war schrecklich müde - eigentlich schliefen Greife unglaublich viel und es zerrte an Kemyles Nerven, dass er so wenig geschlafen hatte, die letzten Tage. Doch schon in der nächste Nacht würde er sich bei Dalaia ausruhen können - so fern er es dann noch wollte.
Nun jedoch beschloss er, von seinem antrainierten Durchhaltevermögen Gebrauch zu machen und diese Nacht durchzuwachen, denn wenn diese Leute immer noch hinter Akira her waren, war auch er selbst in Gefahr und im Schlaf zu sterben war mehr als nur ehrlos. Es war dumm. Vor allem für einen Soldaten von seinem Format.
Also blieb er ruhig sitzten, schwelgte in Erinnerungen, während Akira längst eingeschlafen war - diese Wunde schien ihm sehr zu schaffen zu machen und Kemyles hoffte aufrichtig, dass er am nächsten Tag reisefähig sein würde. Wenn sie keine Pausen machten, könnten sie gegen Mittag bereits ankommen...und wenn sie gut vorankamen, war es auch weniger wahrscheinlich, dass man ihnen gut folgen konnte. Sobald sie erst die ersten Dörfer erreichten und schließlich auch Caras waren sie sicher. Dort würde sie niemand überfallen. Das war sicher.

Als ich aufwachte schien die Sonne bereits. Ich setzte mich auf und streckte mich ein bisschen, bedacht mich nicht so viel zu bewegen, da die Wunde noch nicht verheilt war.

Kemyles, der wirklich müde nach vielen Nächten mit wenig Schlaf und schließlich einer vollkommen ohne Schlaf war, sah aus den Augenwinkeln, wie Akira sich regte.
Er wandte den Kopf zur Seite und musterte den jungen Mann kurz, ehe er unvermittelt und ohne auf irgendwelche Floskeln zu achten, fragte : "Wie geht es dir mit der Wunde?"

"Schon besser, vielen Dank", sagte ich lächelnd.

Kemyles nickte.
"Denkst du, du kannst ab heute wieder reisen? Wir haben noch ein paar wenige Wegstunden vor uns...wir könnten zum Mittagessen schon im 'Tanzenden Greifen' - also in Caras - sein", meinte der Greif nun und rieb sich die Augen.

"Kannst du denn reisen, du siehst sehr müde aus?", erwiderte ich.

Kemyles schüttelte den Kopf.
"Ich kann ohnehin nicht richtig schlafen, bis ich wieder Zuhause bin", entgegnete er ruhig. "Und es ist nicht weiter tragisch...Obwohl Greife wenigstens 12 Stunden schlafen sollten...solange wir uns nicht verwandeln, verbrauchen wir nicht viel Energie. Abgesehen davon bin ich Gewaltmärsche gewohnt...bis nach Caras schaffe ich es jedenfalls ohne weiteres."

"Dann können wir von mir aus losreiten", sagte ich.

Kemyles nickte und erhob sich.
Zunächst packte er seine sieben Sachen wieder ein, achtete darauf, ob noch der leiseste Hauch einer Glut in der Feuerstelle war, die einen Waldbrand zur Folge hätte haben können und verwischte seine Spuren soweit es ihm möglich war. Er wurde zwar seines Wissens nach nicht verfolgt, doch Vorsicht ging nun einmal über Nachsicht.
Als alles wieder auf Baumstamm geladen war, kehrte er zu Akira zurück.
"Also dann, wir können los. Sollte sich irgendwas an deinem Zustand ändern, sag es sofort - es bringt niemandem etwas, wenn du aus Stolz schweigst", wies Kemyles ihn in freundlichem Tonfall an.

Ich nickte. "Werde ich", sagte ich.

Kemyles begleitete Akira zu seinem Pferd und achtete darauf, dass Akira beim aufsteigen nicht stürzte - er half nicht aktiv, er war nur in der Nähe, falls etwas schief ging. Dann stieg er selbst auf Baumstamm und navigierte sein Pferd zurück auf den Waldweg, wo er Akira aufgefunden hatte. Dort, wo das menschliche Blut den Boden durchtränkt hatte, sah man noch dunkle Flecken. Leute mit guten Augen oder gar Spürhunden, würden diesen Hinweis ohne weiteres finden - und ihm wohl auch zu folgen wissen.
Etwas tief in Kemyles, dass er gerne als seinen Instinkt bezeichnete, da er nicht wusste, wie er es sonst nennen sollte, drängte ihn zur Eile. Wenn sie nur erstmal in die unmittelbare Nähe der Zivilisation kamen...

Ich beobachtete meine Umgebung nun genauer. Auf der Waldlichtung fühlte es sich sicherer an, als auf den Weg, wo dich jeder sehen konnte. Ich ritt zu Kemyles und blieb neben ihm stehen.

Kemyles nickte Akira zu und gab Baumstamm dann die Sporen, woraufhin dieser sich in Bewegung setzte, dicht gefolgt von Rubin.
Der Ritt verlief ohne weitere Zwischenfälle. Sie kamen durch einzelne Dörfer und erregten relativ wenig Aufmerksamkeit, wenn man mal von den Kindern absah, die die Fremden immer staunend betrachtet hatten.
Kemyles war positiv von Akira überrascht - der Mensch brauchte kaum Pausen und beschwerte sich nie über irgendwas. Es war nicht zu übersehen, dass er das Reisen gewöhnt war und kein verwöhnter Bengel. Seine Geschichte zeigte auch hier wieder seine Wahrheit. Obwohl es Kemyles gegen den Strich ging, legte er von sich aus zwei Pausen ein - zum einen um den Pferden etwas Ruhe zu gönnen und auch, weil Akira sich eigentlich überhaupt nicht auf ein Pferd setzten sollte.
Da die Wege sehr gut waren kamen sie ansonsten recht zügig voran und als die Sonne an ihrem höchsten Punkt stand kamen die beiden tatsächlich in Caras an.
Natürlich hätte Kemyles lieber sofort den Weg zur Villa eingeschlagen, doch er wusste es besser, als mit einem Fremden vor Dalaias Haustür aufzukreuzen.
Also führte er Akira, der mittlerweile etwas blass wirkte, direkt zum 'Wirtshaus zum tanzenden Greifen'.

gt: Wirtshaus "Zum tanzenden Greif", Schankraum (mit Akira)

cf: Dalaia's Anwesen (mit Shin und Kaito/Ken)

Die drei setzten ihren Weg nahezu pausenlos fort. Einmal pausierten sie kurz, damit Neumondnacht etwas trinken konnte, doch ansonsten ritten sie immer weiter.
Erst zur Mittagszeit ließ Dalaia ihr Pferd zum stehen kommen und rief Shin und Ken zu:
"Da drüben ist eine versteckte Lichtung, da machen wir Mittagspause."
Dazu deutete sie ins Gebüsch.

Ken nickte nur in seiner Wolfsgestalt und als sie auf der Lichtung ankamen und Shin von ihm abstieg, verwandelte er sich zurück.

Dalaia stieg schon auf dem Weg von ihrem Hengst ab und führte ihn dann vorsichtig durch das Gebüsch.
Auf der anderen Seite band sie Neumondnacht an einen Baum und tätschelte ihm noch einmal den Hals, ehe sie eine Ration Trockenfleisch und einen Laib Brot, ebenso wie ein messer aus der Satteltasche holte, alles aufteilte und den beiden Jungen je etwas abgab.
Mit ihrem eigenen Anteil setzte sie sich ins Gras und lehnte sich gegen einen Baum in der Nähe ihres Pferdes.