Dalaia's Anwesen

"Dann läuft bei euch etwas ganz gewaltig schief. Änder doch was, wenn du meinst, dass es dann besser wird", meinte Ellie aufgebracht. "Wer sollte sonst was machen?! Statt dir ein schlechtes Gewissen einzureden, könntest du lieber was unternehmen."

"Weißt du...das Hauptproblem mit meinem Volk ist...dass sie mich nicht mehr akzeptieren würden. Sie tun es nicht mehr. Selbst, wenn sie es anders wäre...sollte ich versuchen etwas zu verändern...etwas anders zu machen als meine Vorfahren in den letzten tausend Jahren...werden sie mich stürzen - blutig. Die Greife werden unsicher sein, es werden sich Faktionen bilden, sie werden unzufrieden sein und zu guter letzt werden sie von niemandem mehr kontrolliert...einige von ihnen werden andere terrorisieren, andere Rassen, andere Völker. Extremisten werden versuchen, ihre Ziele durchzusetzten. Landerweiterung, Unterjochung anderer Rassen, offener Krieg gegen alle Rassen...das wäre das Ende der Greife." Sie schüttelte leicht den Kopf. "Natürlich weiß ich, dass das alles nur im schlimmsten Fall eintreten würde...aber bei einer so leidenschaftlichen Rasse-" Sie seufzte ungehalten. "Ich wünschte wirkliche mein Volk wäre etwas rationaler."

cf: Neutrale Zone, Caras en ráva Fea, Wirtshaus "Zum tanzenden Greif", Zimmer
(mit Akira, Kaito, Liloé und Kemyles)

Die Kutsche kam unmittelbar vor den großen Ebenholztüren des Hauses zum stehen. Schnell rief Kemyles Tzeltichor und wies den Dienstboten an, Kaito in das nächstgelegene Zimmer zu bringen. Er selbst hob Akira ein weiteres Mal hoch und trat, dicht gefolgt von Ambra und Liloé, Kemyles in das Haus. Fast augenblicklich kam Xea auf ihn zu.
"Meister Kemyles, gut, dass Ihr da seid! Ich muss Euch dringend-"
"Xea, wir brauchen deine Hilfe. Kaito und Akira sind schwer verletzt. Liloé hat bereits mit der Behandlung begonnen, aber sie sind immer noch nicht gerade gesund. Deine erste Priorität wird von nun an sein, dich um sie zu kümmern. Das hat Vorrang vor allem."
Xea öffnete den Mund und schloss ihn wieder. "Wie Ihr wünscht. Ich werde sofort beginnen."
Damit wandte sie sich ab und ging, nun vor Kemyles, in ein Zimmer mit großen Fenstern an einer Seite, schneeweißen Wänden und zwei weichen Liegen, wobei eine bereits von Kaito besetzt wurde und Kemyles Akira nun auf der zweiten absetzte.

"Tja, blöd, dass man sich sowas nicht aussuchen kann...", murmelte die Halbdämonin leise. "Ich glaube, das Problem versteh ich. Aber was nützt es dir, dich darüber zu ärgern, wenn du ja doch nichts ändern kannst? Ist doch Zeitverschwendung... Entweder du kannst nichts machen und akzeptierst das oder versuchst es, auch wenn du vielleicht scheiterst und das ganze in einem riesigen Chaos endet. Wobei ich wahrscheinlich nicht die richtige bin, um über sowas zu reden wie das Herrschaftssystem der Greife.

"Danke", sagte ich zu Kemyles und schaute dann zu Kaito, er war immer noch bewusstlos, obwohl schon so viel zeit vergangen war. Das Komische war allerdings, dass auch von Ken keine Spur zu sehen war.

"Keine Sorge...wenn Xea mit ihm fertig ist, ist er so gut wie neu. Das verspreche ich dir", versuchte sie Akira zu beruhigen, als sie bemerkte, wie er seinen Bruder musterte. Tatsächlich war sie sich nicht vollkommen sicher, dass sie die Wahrheit sagte. Xea war zwar sehr erfahren, doch sie war selten so ernst wie in diesem Moment. So angespannt, so erregt. Mochte vielleicht mehr unter dem Dach dieses Anwesens vorgehen, als Ambra im Moment wusste? Was war es, das Xea Kemyles so dringend hatte mitteilen wollen? Sie biss sich auf die Zunge. Nun war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, zu fragen.

Dalaia lachte leise.
"Eigentlich ist das wohl des Volkes herzlich egal. Es sind Greife, was ist das schlimmste, was ihnen passieren kann? Dass sie in einen Kampf verwickelt werden und sterben? Das wäre für sie ein ehrenvolle, erstrebenswerter Tod. Nein, ich will meine Familie zurück. Das wird aber nicht funktionieren, wenn Krieg herrscht. Meine Schwester ist verloren, das habe ich schon vor Jahren begriffen", fügte sie zerknirscht hinzu. "Aber mein Vater...meine Mutter und mein Bruder...mit ihnen könnte ich mich versöhnen, wenn ich mich selbst verleugne und dem Mann, den ich liebe und der höchstwahrscheinlich längst tot ist, den Rücken zuwende."
Unzufrieden mit der Gesamtsituation seufzte sie und schüttelte den Kopf. "Ich habe Hunger...wie steht es mit dir, willst du mitkommen und frühstücken?"

Ich nickte nur und hoffte, dass es tatsächlich so sein würde.

"Vielleicht ist es nicht besonders angebracht, doch...kannst du mir viellecht erklären, was mit euch beiden passiert ist? Wieso wurdet ihr halbtot von einem Dämon hergebracht?", wollte Ambra wissen und obwohl sie sich bemühte, ruhig zu bleiben, konnte sie den aufkeimenden Zorn doch kaum unterdrücken. Was für Sorgen sie sich gemacht hatte!

"Ein Dämon?", fragte ich und schaute sie verwirrt an.

"Ja...er...nannte sich selbst Undertaker. Er schien sehr um euer wohl besorgt zu sein...und...er hat ein Schriftstück für euch dagelassen." Sie kramte es hervor und reichte es Akira.

Ich nahm die Rolle entgegen und las sie mir durch. Meine Augen weiteten sich ungläubig und ich bekam sofort Kopfschmerzen. Dann rollte ich das Pergament wieder zusammen und legte es neben mich. "Es ist eine sehr lange Geschichte, eine dunkle Geschichte, voller Schmerz und Hass", sagte ich und schaute Ambra an. "Möchtest du sie trotzdem hören?", fragte ich dann.

Ambra verzog leicht das Gesicht, als sie die Schmerzen in seinem Gesicht sah, doch sie konnte nicht mehr warten. Sie musste wissen, was es mit ihm und all diesen dunklen Machenschaften auf sich hatte.
"Ja, das möchte ich." Sie hörte, wie müde ihre eigene Stimme klang, doch zunächst reichte sie Akira eine Tasse Tee, die Xea zuvor hereingebracht hatte. "Heilkräuter...sie sollten die Schmerzen etwas betäuben."

Ich nickte und trank etwas. "Diejenigen, die Kaito und mir das angetan haben, waren Mitglieder der Verbrecherbande unter dem Namen Scorpions. Begonnen hat es alles vor sechs Jahren, als wir unsere Familie verloren hatten. Eines Tages wurde unser Haus von eben dieser Bande angegriffen, meine Eltern befahlen Kaito und mir, uns zu Verstecken und haben versucht, sie aufzuhalten. Ich versteckte Kaito und ging dann selbst mit raus, immerhin war ich schon alt genug, um mich wehren zu können. Dort sah ich, wie meine Eltern gnadenlos getötet wurden. Da ich mich versteckt hielt, konnten die Scorpione mich nicht entdecken. Sie zogen ab, da sie nicht von unserer Existens wussten. Ich lief zu meinen Eltern, meine Mutter war bereits tot, ich lief zu meinem Vater und bemerkte, dass er noch atmete. Unwissend, wie ich damals war, zog ich das Messer aus seiner Brust. Er hinterließ mir noch eine letzte Nachricht, ehe auch er die Augen schloss und somit von dieser Welt ging. Ich solle auf Kaito aufpassen. Doch in diesem Moment kam Kaito aus seinem Versteck heraus und sah mich, mit Blut befleckt und dem Messer in der Hand. Er lief weg, noch ehe ich etwas erklären konnte. Seit dem Tag an hat er mich gehasst und mir Rache geschworen, seit dem Tag habe ich ihn verfolgt, um ihn so von den Händen der Scorpione zu schützen. Dazu bin ich ihnen selbst beigetreten, bis sie endlich erfahren haben, wer ich wirklich bin. Ich floh, wurde verletzt und dann etwas später von Kemyles gefunden. Den Rest kennst du", erzählte ich. Die ganze Zeit über habe ich sie nicht anschauen können, habe nur die Wand vor mir angestarrt, meine Hände zu Fäusten geballt.

Ambra schwieg - sie schwieg lange.
Normalerweise fehlten der schlagfertigen Kellnerin nie die Worte. Es konnte vorkommen, dass sie auf eine Antwort verzichtete, doch nie, weil sie keine wusste, sondern, weil sie es für unangebracht hielt oder schlichtweg keine Lust hatte. Doch seit Akira sich zwischen sie und Kemyles gestellt hatte und die Schläge, die für den Greifen bestimmt gewesen waren, abgefangen hatte, hatte sich dieser Umstand geändert. Seit er in ihr Leben getreten war, fehlten seither dauernd die Worte. Wie er sie beschützt hatte, wie er sie zu seiner Verlobten erklärt hatte, wie er sie zu unverhofften Ringen ihres verstorbenen Vaters geführt hatte....wie er sie vor den Männern, die offenbar die Scorpions gewesen sind, geschützt hatte...wie er fast tot zurückgekehrt ist....und wie er ihr nun eine Geschichte erzählte, die ebenso gut eines der Märchen hätte sein können, die Dalaia in den alten Tagen erzählt hätte. Die tragische Geschichte zweier Brüder, der eine hasst, der andere liebt und sie werden nur durch ein Missverständnis voneinander getrennt. Der Ältere hält zum Jüngeren obwohl der ihn tot sehen will.
Ambra legte sanfte eine Hand über eine seiner Fäuste. Eines hatte sie im Wirtshaus gelernt: manchmal gab es keine Worte, die Trost spenden konnten. Manchmal, besonders, wenn es um die Vergangenheit ging, war die pure Anwesenheit einer anderen Person, die bereit war, das Leid zu teilen und einem beizustehen mehr Wert als all die Floskeln, mit denen man sein Beileid ausdrücken konnte. Sie wusste nicht, ob Akira verstehen würde. Sie wusste nicht einmal, ob sie wollte, dass er verstand. Doch es gab für sie keine Worte die dem, was er ihr erzählt hatte, gerecht hätten werden können.

Als ich ihre Hand auf der meinen spürte, schaute ich sie wieder an. Ich konnte ihr ansehen, dass sie mitfühlte, dass sie mich trösten wollte, doch nicht wusste wie. Ich öffnete meine Hand und umschloss damit ihre, lächelte sie dankbar an.

"Es wird noch etwas dauern, bis du wieder vollkommen gesund bist...die Leute werden sich wundern....bei euch beiden. Wir sollten uns eine Geschichte ausdenken. Vielleicht eine, die...möglichst weit von der Wahrheit abweicht", schlug Ambra vor.
"Letzte Nacht gab es einen Brand in der Nähe des Schwarzmarktes. Nicht so nahe, dass es merkwürdig wäre, dass sie dort waren, nicht so weit entfernt, dass es komisch wäre, dass es gebrannt hat. Wir könnten sagen, dass sie dabei waren. Es war ein Arbeitshaus also waren zahllose Menschen betroffen. Sie könnten dort übernachtet haben. Vielleicht wegen der frischen Verlobung. In manchen Kreisen ist es Brauch, dass der Verlobte eine Woche lang weit weg schläft", schlug Kemyles.
"Sieh dir diese Wunden an...die kommen niemals von einem Brand. Das erkennt man doch."
"Du erkennst es, weil du eine Grundlegende Ausbildung hast. Außerdem werden die beiden ohnehin Bandagen tragen. Diese Geschichte ist unauffällig und lebensnah. Du kannst meinetwegen auch erzählen, dass sie versucht haben, den Leuten im Haus zu retten, als sie die Flammen sahen, aber ich weiß nicht, ob es da vielleicht Probleme gäbe."
"Diejenigen, die Akira schon erlebt haben, haben ihn vermutlich eher als heroisch im Kopf. Das könnte passen. Aber vielleicht sollten wir das später diskutieren. Schön...bleiben wir vorerst bim Arbeitshaus...auch, wenn ich es nicht gut finde."

Ich nickte nur müde und schaute wieder kurz zu Kaito.

"Du hast gestern aber nicht so gewirkt, als wüsstest du seit Jahren, dass Lusaya 'verloren' ist", bemerkte Ellie überrascht. "Oder zumindest nicht, WIE verloren. Und ich frühstücke gerne mit dir, aber könntest du mir vorher noch zeigen, wo Thalion ist? Die Frau, die uns gestern auf die Zimmer gebracht hat, hat es mir zwar gesagt, aber ich finde den Weg nichtmehr... sie hat übrigens die ganze Zeit vor sich hingemurmelt, dass sie unbedingt mit dir reden muss und dass...Kemyles? Irgendwie so hieß er... dass sie jedenfalls noch zu ihm und ein paar anderen Leuten muss und dass sie darüber schon längst mit dir hätte sprechen müssen."

Dalaia fuhr auf und spürte, wie die Luft ihre Lunge stoßweise verlies.
Kemyles?
Worüber könnte Xea betreffend des Greifen mit ihr sprechen wollen? War er hier?
Nein...er hätte sie längst aufgesucht, wenn er hier wäre.
...oder?
Er könnte Angst vor ihrem möglichen Zorn haben.
Welcher Zorn? Könnte sie sich noch betrogen oder verraten fühlen, wenn er endlich vor ihr stand, wenn sie endlich wieder in seinen Armen ruhen könnte?
Aber nein. Sie war ein Greif. Sie war stolz. Sie durfte ihm nicht so einfach verzeihen - weder als Greif, noch als Prinzessin und erst recht nicht als Frau.
Sie musste ihm ihre Wut zeigen.
Wäre diese Wut überhaupt gerechtfertigt? Müsste sie sich nicht zuerst anhören, was er zu sagen hatte? Müsste sie nicht warten und dann sehen, ob er irgendeine Wahl gehabt hatte?
Ging es ihm gut?
Er könnte krank oder verletzte oder gar im Sterben liegend in seinem Zimmer sein. Das wäre eine Erklärung für sein Versäumnis, zu ihr zu kommen.
Doch Xea hätte sie wohl kaum einfach gehen lassen, wenn es Kemyles schlecht ginge?
Genug, ermahnte die Prinzessin sich selbst und ließ so die kühle, rationale Logik, die sie dem elbischen Teil ihres Daseins verdankte, den inneren Streit zwischen Liebe, Sorge, Stolz und Wut unterbrechen. Ich kenne nicht mehr als ein Gerücht, der Bericht einer Fremden, die das Gemurmel einer Zofe gehört hat. Ehe ich nichts näheres weiß, ehe ich nicht mit Xea gesprochen habe, bringt es mir nichts, zu grübeln.
Dalaia atmete einmal tief durch und lächelte Ellie ruhig an.
"Lass uns zum Frühstück gehen, ich werde Xea anweisen, deinen Bruder zu uns zu bringen, so ist es einfacher."

"In Ordnung....?", stimmte Ellie zu und machte sich nicht einmal die Mühe ihre Verwirrung zu verbergen. Dalaia war anzusehen gewesen, dass diese Nachricht sie aus der Bahn geworfen hatte, dass sie aufgebracht war, und dass sie es sich nicht anmerken lassen wollte - was ihr sogar relativ gut gelang. Trotzdem wollte Ellie wissen, was los war.
"Wer ist dieser Kemyles?", erkundigte sich die Halbdämonin deshalb, während sie Dalaia durchs Haus folgte.

Dalaia warf Ellie einen Seitenblick zu.
Sie hatte sich der Halbdämonin schon weit geöffnet, wieso sollte sie hier und jetzt stoppen? Doch Kemyles war schon immer ein kompliziertes Thema gewesen - also machte sie genau das zu ihrer Antwort.
"Er ist...eines der Bruchstücke, das mal meine Familie dargestellt hat...das vermutlich schwierigste von allen...aber auch das, zu dem ich am längsten eine Verbindung aufrecht erhalten konnte", erklärte sie eher vage, als sie in den Speisesaal eintraten. Sofort war Xea zur Stelle, doch ehe sie den Mund aufmachen konnte, meinte ihre Herrin ruhig: "Bitte hole den Halbelb zu uns, damit er mit uns gemeinsam speisen kann. Ich werde im Anschluss Zeit für dein Anliegen haben - und ja, ich verstehe, wie wichtig es ist. Maße dir nicht an, meine Entscheidung oder meine Prioritäten zu hinterfragen."
Die Magd verzog unwillig das Gesicht, nickte dann aber und machte sich auf, während Dalaia sich an das Tischende setzte und Ellie andeutete, es ihr gleich zu tun.

Mein Kopf schmerzte, mein Körper war taub, das einzige, was ich bewegen konnte waren meine Augenlider. Ich öffnete langsam meine Augen. Ich hatte keine Ahnung wo ich war, wie ich hierhergekommen bin, was alles passiert ist, während ich ohne Bewusstsein war. Das einzige, woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass ich Akira gefunden hatte, ausgepeitscht und an Ketten gelegt, in einer Höhle. Ich konnte mich daran erinnern, dass mit mir das gleiche geschah. Doch anscheinend lebte ich noch. Ich atmete ein und spürte sofort einen stechenden Schmerz in der Brust.

Kemyles bemerkte als Erster, das Kaito erwacht war.
Vorsichtig kniete er sich an sein Bett und sprach den Verletzten mit beruhigender, angenehmer Stimme an: "Wie geht es dir?"
Nun wurde auch Ambra auf Kaito aufmerksam und ließ sich an seiner anderen Seite nieder, ein frisches Glas Wasser in der Hand.